Porträt Jerzy Gross

 

Jerzy Gross, alias Michael Emge, geboren am 16. November 1929 in Krakau; gestorben am 24. Juli 2014 in Köln, war ein polnisch-deutscher Holocaust-Überlebender. Jerzy Gross stand als Kind auf der berühmten „Schindlers Liste“ und überlebte so den Holocaust. Er war der letzte in Deutschland lebende „Schindlerjude“.

Entlassschein von Jerzy Gross aus der Fabrik von Oskar Schindler, Mai 1945


Jerzy Gross in den 60ger Jahren am Schlagzeug


Jerzy Gross signiert nach seiner Lesung im Gymnasium Hückelhoven im Mai 2014, seinem letzten Auftritt als Zeitzeuge vor seinem Tod


Jerzy Gross in Kempen, 2012

Als Kind eines jüdischen, deutschen Vaters und einer katholischen, Wiener Mutter, wurde Jerzy Gross in Krakau, wo sein Vater als Ingenieur Brücken baute, geboren. Die Mutter, die als österreichische Katholikin dem Holocaust hätte entkommen können, blieb bei Mann und den beiden Söhnen, teilte deren Schicksal. Jerzy Gross war neun Jahre alt, als Hitler Polen überfiel und er mit seiner Familie den Verfolgungen der Nazis ausgeliefert war. Zwei Ghettos und drei Konzentrationslager hat Jerzy Gross überlebt. Mit ihm überlebte aus der über 60-köpfigen Großfamilie nur ein Onkel.

Wunderkind an der Geige

Ein Onkel von Jerzy Gross war ein international konzertierender Geiger. Er entdeckte das große Talent von Jerzy Gross an der Geige. Die Familie unterstützte die Ausbildung des ungewöhnlich begabten Kindes. Selbst im Ghetto bekam Jerzy Gross noch Geigenunterricht.

Schindlers Liste

Jerzy Gross’ Mutter war bei dem Fabrikanten Oskar Schindler, der durch Steven Spielbergs Hollywooddrama „Schindlers Liste“ bekannt werden sollte, angestellt. Oskar Schindler versuchte gegen Ende des zweiten Weltkrieges, die jüdischen Arbeiter seiner Emaillewarenfabrik in Krakau zu retten. So entstand die später berühmt gewordene Liste, die tatsächlich mehr als 1.100 Menschen das Leben rettete. Einer von ihnen war Jerzy Gross. Seine Mutter wurde in Ausschwitz verraten, sein Vater im KZ Plaszow deportiert, sein vier Jahre älterer Bruder verschwand, obwohl auch er auf der Liste stand.

Hundepfleger im KZ

Jerzy Gross verdankte sein Leben aber noch einem anderen Mann, dem hohen NS-Funktionär Franz Müller. Ausgerechnet. Franz Müller rettete Jerzy Gross erst im Ghetto Bochnia, dann im KZ Plaszow immer wieder vor Selektionen und bei Deportationen, indem er ihn an beiden Orten zum Hundepfleger machte. So versorgte Jerzy Gross sechs, zum Töten abgerichtete, dänische Doggen, sowie den Schäferhund von Franz Müller und verbrachte z. B. eine Nacht im Zwinger, als alle anderen Kinder mit dem Kindertransport deportiert wurden.

Befreiung: 15 Jahre, 27 Kilo

Im Mai 1945 wurde das Konzentrationslager Brünnlitz in Oberschlesien befreit. Jerzy Gross war damals 15 Jahre alt. Er wog noch 27 Kilo. Vergeblich hoffte Jerzy Gross, seine Familie in Krakau wieder zu finden. Ganz auf sich alleine gestellt machte er seine Schule zu Ende, lernte wieder Geige und bewarb sich erfolgreich am Konservatorium. Er wurde musikalischer Redakteur beim Radio und Mitglied eines Radiosinfonieorchesters. Später ging er nach Israel, spielte in Tel Aviv auf Caféterassen am Meer mit kleinen Klezmer- und Countryorchestern.

Abgesagter Prozess

In den 60er Jahren kam Jerzy Gross nach Deutschland, um in einem Prozess für Franz Müller auszusagen. Als der Prozess in letzter Minute abgesagt wurde, erkrankte Jerzy Gross so schwer, dass er viele Monate nicht transportfähig war. Nach seiner Genesung blieb er in Deutschland.
1993 kam „Schindlers Liste“, der vielfach oskargekrönte Film von Steven Spielberg in die Kinos. Jerzy Gross erwartete die Geschichte seines Lebens und sah, in seinen Augen, im Spiegel der Leinwand doch nur in ein Hollywooddrama. Die Dramatisierung, die Ökonomierung der Geschichte der Schindlerjuden, Oskar Schindler, der zum Helden, zum Mythos stilisiert wird, obwohl er sich wenig kümmerte, während seine Frau Emilie Schindler, die sich hingebungsvoll um Jerzy und die anderen im Lager kümmerte, im Film kaum vorkommt – all das hat Jerzy Gross fassungslos gemacht. Als er sich bei einem bekannten jüdischen Publizisten darüber beschwerte, gab ihm dieser mit auf dem Weg: „Solange du andere deine Geschichte erzählen lässt, musst du mit dem leben, was sie sagen. Erzähl deine Geschichte selber!“

Bedrohung durch Neonazis

Jerzy Gross ließ sich das sagen. Und begann als Zeitzeuge zu arbeiten. Wovon er sich zum Glück auch dann nicht abhalten ließ, als er daraufhin von Neonazis bedroht wurde. Die Polizei riet ihm zu Geheimnummer und -adresse. Unter dem Namen Michael Emge ging Jerzy Gross bis zu seinem Tod im Juli 2014 weiter als Zeitzeuge in Schulen.

Jerzy und Judith

Im Juni 2008 erzählt Jerzy Gross seine Geschichte das erste Mal öffentlich im domradio. Über diese Sendung lernte Judith Jerzy Gross kennen. In der Folge entwickelte sich eine Freundschaft, über die Grimme-Preisträger Martin Buchholz eine Dokumentation für die ARD drehte. Der Film erschien später beim katholischen Filmwerk als DVD. Der Verlag Herder reagierte auf diese Dokumentation und brachte das Buch „Spiel mir das Lied vom Leben“ von Angela Krumpen heraus.

Angela Krumpen schrieb auch eine Bühnenfassung zu diesem Buch, mit der Jerzy Gross in ganz Deutschland seine Geschichte vor mehr als 12.000 Jugendlichen erzählte.

Jerzy Gross starb am 24. Juli 2014 in Köln.

Sein größter Wunsch vor seinem Tod war: „Vergesst mich und mein Schicksal nicht. Erzählt meine Geschichte weiter. Aber habt Spaß.“ Ob dieser Wunsch in Erfüllung geht, liegt jetzt an uns.