Wie erinnern wir an den Holocaust, wenn es keine Zeugen mehr gibt? Vor dieser Frage stehen wir alle. Und ich , Matthias Milleker, arbeite deswegen jetzt bei „Spiel mir das Lied vom Leben“ mit.
Jerzy und Judith, das Projekt „Spiel mir das Lied vom Leben“ ist mir durch die Arbeit im Domradio begegnet, wo Angela Krumpen und ich als freie Redakteure arbeiten. Richtig kennengelernt haben wir uns, als wir gemeinsam die Silvestersendung bestritten und on air ins neue Jahr gefeiert haben. Dabei haben wir Literatur als gemeinsame Leidenschaft entdeckt.
Ich selbst habe Jerzy nicht mehr kennengelernt. Dafür habe ich von seinem Schicksal erfahren, das er mit so vielen Menschen teilen musste. Natürlich weiß ich um die Judenvernichtung im Holocaust und es ist ein Thema, mit dem ich mich viel beschäftigt habe. 2010 habe ich mit einem Freund eine Reise durch Polen gemacht, dabei habe ich die Schindler-Fabrik in Krakau und auch das Vernichtungslager Auschwitz besichtigt.
Ich war mit der Aufarbeitung der Vergangenheit an diesem Ort nicht immer einverstanden. Oft hatte ich das Gefühl, dass man wegen des großen touristischen Andrangs nur wenige Minuten Zeit hatte, um die Schauplätze auf sich wirken zu lassen, dann wurde man schon zur nächsten Station gedrängt. Einerseits ist das verständlich, denn gerade in Auschwitz ist die Nachfrage aus aller Welt sehr groß. Trotzdem blieb ein bitterer Nachgeschmack, für mich wurde Quantität über Qualität gestellt.
Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema hatte ich während des Schreibens meiner Masterarbeit. In dieser Zeit habe ich mich intensiv mit Literatur zum Zweiten Weltkrieg auseinandergesetzt und der Frage, wie wir angemessen erinnern können. Wie lässt sich das Unsägliche in Worte fassen? Meine Arbeit hat mir gezeigt: Traumaaufarbeitung ist kein rein individueller Prozess. Die Traumatisierten müssen ihre Geschichten erzählen, um aufzuarbeiten, aber die Gesellschaft muss auch zuhören und sich mit ihrer Vergangenheit konfrontieren. Wenn wir es nicht tun, nimmt sich die Vergangenheit, was ihr zusteht. Die Folge kann ein Rückfall in jene Denkweisen sein, die die Traumata ursprünglich verursacht haben.
Als ich Jerzys Geschichte las, habe ich denselben Sog, dieselbe Fassungslosigkeit gespürt, wie ich es bei Georges Perecs „W ou le souvenir d’enfance“ und Claude Lanzmans Film „Shoah“ erlebt habe.
Deswegen habe ich mich entschieden zu helfen, die Geschichte Jerzys weiterzuerzählen. Weil uns seine Lebensgeschichte bei der Erinnerungsarbeit, die wir zu leisten haben, helfen kann. Weil er selber Jugendlicher war, weil Zeitzeugen mit besonderer Autorität sprechen, weil wir Videos haben, weil Judith Teil des Projektes ist, weil wir diese Geschichte und die Erfahrungen mit ihr vor 10 000 Schüler*innen ein besonderes Potential hat. Dazu hat der Arbeitskreis Jerzy Gross die Projektstelle Öffentlichkeitsarbeit eingerichtet und mit mir besetzt.
Mit mir, obwohl ich Jerzy nicht mehr kennengelernt habe. Ich meine, das geht. Nicht obwohl, sondern weil ich ihn nicht kennengelernt habe. Ich bin quasi ein Experiment. Und der Beweis, dass Erinnern weiter geht. Auch wenn die Zeugen selber uns verlassen haben.