Pour maman. Eine Kinderzeichnung in Ausschwitz

Angela Krumpen|

© Anne Sikora

Hannah, 19 Jahre ist kurz vor dem Abitur nach Ausschwitz gefahren. Am meisten berührt dort hat sie eine Kinderzeichnung: pour maman.

Wir stehen in einem abgedunkelten Raum. Rundherum werden Schwarzweißfilme projiziert. Szenen jüdischen Alltages: Familien picknicken, Kinder werden gebadet, Passanten sind in den Straßen einer Stadt unterwegs. Dazu jüdische Musik. Im Treppenhaus auf dem Weg zur nächsten Station höre ich sie immer noch.

Auf der Treppe legt sich Gebrüll über die Musik: Propagandageschrei und lautes, zustimmendes Gejohle aus abertausend Kehlen wechseln sich im nächsten Raum ab. Ein Satz aus dem Gebrüll bohrt sich in mein Hirn, nimmt von mir Besitz: „Die Juden sind schuld.“

In dieser Verfassung trifft mich im nächsten Raum der Blitz in Form einer kleinen, einsamen, von Kinderhand gezeichneten Blume. Pour maman hat das Kind in schönsten Lettern darunter gemalt. Übergangslos produziert mein Hirn Szenen, in denen das Kind, (vielleicht war es sechs, sieben, acht Jahre alt) diese Blume gemalt hat: ist seine Mutter gerade abgeholt worden? Vor den Augen des Kindes erschossen? Oder aus größter Not gerettet? Zugleich kreischt: „die Juden sind schuld“ weiter in mir herum.

Ich befinde mich mittendrin, im ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz 1, und kann die Dimension des Grauens, das sich hier zugetragen hat, nicht glauben. Ich habe viel über den Holocaust gelesen. Hatte das Glück mit einem Überlebenden viele Gespräche führen zu dürfen: Jerzy Groß, der diesen Wahnsinn mit seinem unbändigen Lebenswillen überlebte. Ich fühlte mich vorbereitet. Trotzdem überwältigt mich das Leid in diesem Augenblick.

Während ich die Kinderzeichnung , nicht größer als meine Hand, betrachte, denke ich an Jerzy Gross. Er war auch ein Kind. Litt In drei Konzentrationslagern. Musste früh auf seine Mutter verzichten, alleine um sein Überleben kämpfen. Tag und Nacht vermisste er seine Mutter, nutzte jede Gelegenheit, sie aufzusuchen. Bis sie eines Tages verschwand. Erst Jahre später, als er schon wusste, dass über 60 Mitglieder seiner Familie ermordet waren, aber immer noch hoffte, die Mutter lebend zu finden, erfuhr er, dass sie verraten worden war. In Ausschwitz. Wo ich jetzt stehe. Anna Leontine hieß die Mutter von Jerzys Gross. Für ihn habe ich diese Reise gemacht. Und für sie.

Jerzy Gross hätte dieses Bild, vor dem ich immer noch stehe, auch malen können. Plötzlich knallt, zischt und brutzelt es. Können Gehirne einen Kurzschluss haben? Ich weiß nur: dieses Kind ist nichts schuld. Jerzy und Anna Leontine nicht. Kein Jude ist irgendetwas schuld.

Ganz unerwartet verdichtet sich alles, Berge von Haaren, Schuhen und Koffern, Bestrafungszellen und Fotos von Kindern, auf dem Weg in die Gaskammer, all die Berichte über Einzelschicksale und die ungeheuren Zahlen, die ich gelesen habe, alles verdichtet sich in dieser einfachen Kinderzeichnung.

Und dann passiert noch etwas: so als sähe ich einen Film, überblenden plötzlich andere Gesichter die kleine Blume: Walid und Mamadou, Chibaizee und Albert, Moustafa und Breket und all die anderen, die ich in den letzten Monaten kennengelernt habe, seitdem sie in die Turnhalle um die Ecke gezogen sind. Zum lähmenden Nichtstun unter nutzlosen Basketballkörben verdammt.
Nach und nach haben die jungen Männer, während wir Deutsch lernten, Kuchen auf der Wiese aßen, Theater und Fußball spielten, erzählt: Von einer Boko Haram Bombe, die den Freund im gleichen Zimmer zerfetzte, davon zu Hause, in Syrien ,nur noch Angst zu sterben gehabt zu haben, vom Schmerz, an Weihnachten keine Mutter mehr anrufen zu können. Hier in Auschwitz weiß ich: es ist gut, was ich tue. Aber wir müssen mehr werden.

Ich bin bereit.

Als sie zurück kam, pfiff beim Hundespaziergang der Wind. Sie brauchte schwarze Handschuhe mit bunten Knöpfen. Die Alina Gross, Jerzys 64 Jahre lang geliebte Ehefrau gehört haben. Seit dem 11. April 2016 sind Jerzy und Alina wieder vereint.

Mögen sie glücklich sein.